Das Geheimnis der Freiheitsstatue – Teil 1

„75, 76, 77“! Ben zählte zum dritten Mal die restlichen Dollar aus seiner Sparbüchse, die er von der letzten Amerika-Reise von vor einem Jahr noch übrig hatte.

„Egal, wie oft ich zähle, es wird einfach nicht mehr“, ärgerte er sich über sein bescheidenes Vermögen. Er hatte gedacht, beim letzten Besuch in Amerika bei seinem Großvater nicht so viel Geld ausgegeben zu haben.

„Heute geht aber auch gar nichts vorwärts“, beschwerte sich Ben bei seiner Mutter, die vor ihm in der Schlange vor der Zollabfertigung am Flughafen von Newark stand, wo sie vor einer Stunde gelandet waren.

„Was für eine Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?“, fragte seine Mutter und sah ihn überrascht an. „Gibt´s noch einen Grund für deine schlechte Laune? Ich dachte, du freust dich, dass wir endlich da sind!“ Frau Petersen musterte kritisch ihren Sohn.

„Ja, schon“, gab Ben zu. Seine Mutter hatte ihn mal wieder durchschaut.

„Morgen, an meinem einzigen Tag in New York, muss ich ausgerechnet zur Freiheitsstatue! Blöderweise hab ich zu dieser hirnrissigen Hausaufgabe auch noch ja gesagt! Ich könnte mich sonst wo hintreten“, schimpfte Ben weiter. „Professor Morgenstern wollte, dass ich den anderen von der Earthgang berichte, wie´s mir geht, wenn ich an der Freiheitsstatue vorbeifahre. Wegen der Einwanderer und so, du weißt schon. Mein einziger Tag mit Jack in New York ist futsch. Ich wär’ viel lieber zu Ripley´s believe it or not gegangen, oder was weiß ich. Alles ist besser als die doofe Freiheitsstatue. Wer weiß, was Jack dazu sagt. Begeistert ist er bestimmt nicht.“

„Das ist wirklich schade! Zu dumm! Ich wollte dich und Jack auch schon fragen, ob ihr zwei nicht Lust habt, Susan und mich ins Musical zu begleiten. Ich wollte euch einladen und hinterher zum Essen ausführen.“

„Das gibt´s ja nicht! Vielen Dank, Mama! Und wieso bitte fällt dir das erst jetzt ein? Ist ja toll, dass ich auch was von deinem spendablen Angebot erfahre!“, konterte Ben aufgebracht. „Hättest du mir das nicht früher sagen können?“ Der ganze morgige Tag war schon gelaufen, bevor er überhaupt begonnen hatte.

Ben war mit seiner Mutter, Lilly Petersen, Amerikanerin deutscher Abstammung, in den Sommerferien für eine Woche nach New York geflogen. Bens Vater, der als Lotse in Bremerhaven arbeitete, hatte keinen Urlaub bekommen und musste daher zu Hause bleiben. In erster Linie wollten sie Bens Großvater besuchen, der vor den Toren New Yorks auf Long Island Wein anbaute.

Heute und morgen besuchten sie Susan Rinaldi, eine Freundin von Bens Mutter, in Manhattan, bevor sie vom Bahnhof Penn Station aus den Zug nahmen und weiter nach Long Island fuhren.

Susan arbeitete bei der New York Times im 50. Stock an der 8th Avenue. Bei seinem letzten Besuch in New York hatte Susan Ben ihr Büro gezeigt und bis heute erinnerte sich Ben an den Blick aus dem Fenster ihres Büros auf den Hudson River. Ben war es jedes Mal ganz schwindelig geworden, wenn er durch die Fenster nach unten schaute. Die Menschen auf der Straße sahen noch kleiner aus als Ameisen, so dass sie mit bloßem Auge kaum zu erkennen waren.

Ben freute sich schon auf Jack, Susans 15-jährigen Sohn. Ben wusste selbst noch nicht, wie er es schaffen sollte, Jack ausgerechnet für einen Ausflug zur Freiheitsstatue zu begeistern, denn er wollte den Tag unbedingt mit seinem Freund verbringen. Seiner Meinung nach war es so ziemlich das langweiligste Ziel, das man in New York haben konnte. Sämtliche Touristen waren seit jeher dorthin gepilgert, und Ben hatte wirklich null Bock, zu den Touris zu zählen, die sofort ihre Kameras zückten, sobald die Fähre auf den Hudson River hinausfuhr. Ausgerechnet er! Krampfhaft überlegte Ben, wie er das Problem lösen konnte.

Der ernst dreinschauende Grenzbeamte stellte in diesem Moment seiner Mutter dieselben Fragen wie allen Einreisenden vor ihr in der Schlange: „Was ist der Anlass Ihrer Reise? Ferien oder Business? Wie lange bleiben Sie? Wohin fahren Sie? In welchem Hotel oder bei welcher Adresse in den Vereinigten Staaten sind Sie zu erreichen?“ Und so weiter.

Während Frau Petersen alle Fragen wahrheitsgemäß beantwortete, wanderten Bens Gedanken zu seinem Urgroßvater und den 12 Millionen Einwanderern, die in der Zeit zwischen 1892 und 1954 auf Ellis Island angekommen waren, einer Insel, die inmitten des Hudson River im Hafengebiet bei New York City lag. In der dortigen Einwanderungsbehörde vor den Toren New Yorks hatten die Einwanderer damals diese und noch viel mehr Fragen beantworten müssen, bevor sie nach Amerika einreisen durften.

Jetzt war Ben an der Reihe. Der Einreisebeamte machte ein Foto von Ben. Danach waren die Fingerabdrücke an der Reihe. Ben musste zuerst die vier Finger der rechten Hand, dann den rechten Daumen und anschließend die vier Finger der linken Hand und den linken Daumen auf das Scangerät legen. Fertig!

Der Einreisebeamte musterte Ben misstrauisch. Doch dann verzog sich das ausdruckslose Gesicht des Beamten zu einem breiten Lächeln, so dass Ben seine weißen Zähne blitzen sah. „Einen schönen Aufenthalt in den Vereinigten Staaten“, wünschte der Mann.

Endlich sauste der Stempel der Einwanderungsbehörde auf Bens Reisepass nieder. Ben hatte es wieder einmal geschafft. Jedes Mal spürte er Erleichterung, wenn der Abfertigungsschalter der Zollbehörde hinter ihm lag.

„Was für eine Freude musste Urgroßvater damals empfunden haben, als er für immer nach Amerika einwandern durfte“, schoss es Ben durch den Kopf. Für ihn war sein Urgroßvater ein Held. Daran würde sich nie etwas ändern.

Ben gähnte. In Deutschland war es schon 1 Uhr nachts, zu Hause würde er längst schlafen. Sie waren um 17 Uhr 30 mit dem Flugzeug von Hamburg aus losgeflogen und sechs Stunden später in New York gelandet. Hier war es erst 20 Uhr und noch hell.

Als die Petersens kurze Zeit später in einem gelben Taxi nach Manhattan saßen, nickte Ben ein.

Ben erwachte erst wieder, als das Taxi vor einem blauen Hochhaus mit Balkonen in der 32. Straße zwischen der 2nd und 3rd Avenue anhielt.

„Spinnst du, ich hab zwei Karten fürs Yankee Stadium, Mariners gegen Yankees, dieses Baseballspiel dürfen wir uns nicht entgehen lassen“, rief Jack entsetzt, nachdem Ben ihm die schlechte Nachricht von der Freiheitsstatue gleich an der Eingangstür gebeichtet hatte. Jacks Reaktion war noch heftiger ausgefallen, als Ben es sich vorgestellt hatte. Sein Freund war sichtlich enttäuscht.

„Good night, sleep well“, hörte sich Ben noch sagen und machte dabei ein zerknirschtes Gesicht. Diskussionen aller Art mussten bis morgen warten, er war einfach hundemüde. Dann lag Ben auch schon im Bett und schlief sofort ein. Er träumte von seinem Urgroßvater.

Der nächste Morgen im ausgeschlafenen Zustand sah schon besser aus. Ben stand mit einem Glas frisch gepressten Orangensaft in der Hand neben Jack auf dem Balkon und genoss den Blick auf den East River und die Hochhäuser um ihn herum, in deren Glaswänden sich die Sonne spiegelte.

Jack hatte sich wieder beruhigt. Notgedrungen willigte er ein, Ben zur Insel Liberty Island zu begleiten. Schließlich war die Familie seines Vaters auch von Italien aus auf einem Auswanderungsschiff vorbei an der Freiheitsstatue nach Amerika eingewandert.

„Ich muss noch telefonieren, um die Karten loszuwerden. Meine Freunde reißen mir die Karten eh aus der Hand. Dann können wir gehen.“

Jack und Ben verabschiedeten sich von Susan und Lilly, die sich am Frühstückstisch noch eine Menge Neuigkeiten zu erzählen hatten, wünschten sich gegenseitig einen schönen Tag und starteten ihren Ausflug in das emsige Treiben von New York.

Ben füllte an einem Automaten seine alte Metrokarte mit ein paar Dollar auf, so dass es für die Hin- und Rückfahrt reichte. Dann fuhren er und Jack mit der U-Bahn zur Grand Central Station in der 42. Straße und stiegen am Times Square in die rote U-Bahn-Linie Nummer 1 um.

Wie fast an jedem Tag dröhnten die U-Bahn-Schächte von den Straßenkonzerten junger Musiker. Ben musste sich an die Lautstärke der New Yorker U-Bahn erst wieder gewöhnen. Jack dagegen ging ungerührt an den Straßenmusikern vorbei, als hörte er sie nicht. Ben schrie Jack etwas ins Ohr, um ihm zu sagen, dass er sich auf ihre gemeinsame Tour freut, aber der schaute ihn nur fragend an. Es war einfach zu laut an diesem Morgen. Ben kümmerte es nicht weiter. Das Reden war ihm sowieso zu anstrengend, es war einfach zu heiß.

Bens T-Shirt klebte ihm jetzt schon am Rücken. An diesem schwülen Tag fiel in der U-Bahn auch noch die Klimaanlage aus. Also sausten sie bei ohrenbetäubendem Lärm in einer Art Schwitzkasten von Norden bis an den südlichsten Zipfel unter den Hochhäusern hindurch. Im Süden von Manhattan endete ihre Fahrt an der South Ferry Station.

Nach einer Stunde im stickigen Untergrund konnte Ben es kaum erwarten, an die frische Luft zu kommen. Er nahm zwei Stufen auf einmal und rannte mit verschwitztem T-Shirt die steilen Treppen hinauf. Oben angekommen, konnte er den Hudson River und die Freiheitsstatue auf Liberty Island in weiter Ferne schon sehen.
Als sie ihren Weg fortsetzen wollten, stellte sich ihnen plötzlich ein uniformierter Mann breitbeinig in den Weg und starrte sie grimmig an. Das hatte gerade noch gefehlt …

Zu Teil 2 der Geschichte …

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