Die Geister von Ellis Island – Teil 1
Die Passagiere, die im Hafen von New York auf die Freiheitsstatue steigen wollten, waren von Bord gegangen. Die Fähre ließ die Insel Liberty Island hinter sich und fuhr wieder volle Fahrt voraus auf die wogenden Gewässer des Hudson Rivers hinaus und nahm Kurs auf die Nachbarinsel Ellis Island.
Die Fähre war jetzt nur noch zur Hälfte besetzt. Jack und Ben liefen auf dem Oberdeck hin und her, um die Sitze mit der besten Sicht auszuprobieren. Rechterhand lag Manhattan vor ihnen, linkerhand sahen sie bereits Ellis Island auf sich zukommen. Fotografieren war jetzt ihre größte Leidenschaft.
So tolle Fotomotive gab es nicht alle Tage, da ging es ihnen kein bisschen anders als den 20 Millionen Touristen, die seit 1990 aus aller Welt hierher gekommen waren. Das war das Jahr, als die ehemalige Einwanderungsbehörde von New York auf der kleinen Insel ihre Tore als Einwanderungsmuseum neu eröffnete.
Ben und Jack hatten darüber gelesen, dass viele Touristen Verwandte und Nachkommen der über 12 Millionen Einwanderer waren, die vor vielen Jahren Europa verlassen hatten, um in die Vereinigten Staaten einzuwandern und dort ein neues Leben zu beginnen.
Mehr als 90 Prozent von ihnen waren Europäer. Die Touristen machten sich auf Spurensuche nach ihren Verwandten oder wollten mehr über ihre Vorfahren wissen. Warum hatten sie ihrer Heimat den Rücken gekehrt und sich ein Ticket in eine ungewisse Zukunft für die Überfahrt über den Atlantik auf einem der großen Überseedampfer gekauft? Ein Ticket ohne Rückfahrkarte.
Die Tore zur Einwanderungsbehörde von Ellis Island hatten damals das Schicksal so vieler Menschen auf der ganzen Welt bestimmt.
„Eigentlich bin ich kein Tourist“, sagte Ben voller Überzeugung. Der Trotz in seiner Stimme war nicht zu überhören. „Schließlich kommt meine Mutter von hier, ich bin hier geboren und mein Opa lebt immer noch hier.“
„Bist du doch“, konterte Jack. „Immerhin bist du mit deiner Mutter nach Deutschland zurückgegangen und kommst jetzt nur noch zu Besuch. Also bist du ein Tourist. Bei mir ist es was anderes. Ich lebe schon immer hier und bin hier geboren. Ich bin ein echter New Yorker.“
„Was heißt das schon?“, entgegnete Ben. „Dein Papa ist auch der Sohn ehemaliger italienischer Einwanderer, die sich in Amerika niedergelassen haben. Und deine Oma ist Deutsche. Das hat mir deine Mutter erzählt. Du bist genauso viel oder wenig Tourist wie ich.“
Direkt vor ihnen lag jetzt Ellis Island mit dem berühmten Gebäude des Einwanderungsmuseums, und die Skyline von Manhattan war atemberaubend.
Der Blick auf die Wolkenkratzer war so überwältigend, dass es völlig unwichtig wurde, wer von ihnen beiden nun Tourist war oder nicht.
Die „Liberty“ bog in einen Kanal ein, der den Norden und Süden der Insel voneinander trennte und ging am Anlegesteg vor dem Einwanderungsmuseum vor Anker. Ben erblickte sofort die Eingangstore der ehemaligen Einwanderungsbehörde, die er aus Spionagefilmen kannte.
Ben und Jack stiegen die Stufen hinauf und kamen durch eines der Eingangstore geradewegs in den ehemaligen „Baggage Room“, eine riesengroße Halle, in der sich die Einwanderer damals auf die Suche nach ihren Gepäckstücken machten, die von ihrem Ozeandampfer aus auf Fähren auf die kleine Insel vor der Stadt New York gebracht worden waren. Diese Einwanderer waren die Passagiere der dritten Klasse, die sich ein Ticket für eine Kabine in der ersten oder zweiten Klasse auf ihrem Schiff nicht leisten konnten. An manchen Tagen strömten bis zu 5000 Menschen pro Tag hier herein.
„Ich hab riesigen Hunger, lass uns zuerst etwas essen“, schlug Jack vor. „Mit knurrendem Magen hab ich keine Lust auf Einwanderergeschichten. Sogar die bekamen erst einmal Kaffee und einen Donut.“ Jack zog Ben nach rechts Richtung Restaurant, in dem auch damals die Einwanderer gegessen hatten.
„Meinetwegen.“
Widerwillig ging Ben hinter Jack her. Zu gerne wäre er gleich in die Ausstellung gegangen. Aber jetzt wollte er Jack auch mal einen Gefallen tun, denn schließlich hatte sein Freund wegen ihm auf ein spannendes Baseballspiel verzichtet.
Endlich begannen sie den Rundgang. Ben erinnerte sich an das Auswanderermuseum im Hafen von Hamburg, das er mit der Earthgang vor einiger Zeit besucht hatte. Er hatte damals bei ihrer Besichtigungstour gehofft, dort auf Spuren seines Urgroßvaters zu stoßen, der vor vielen Jahren von Hamburg nach Amerika ausgewandert war. Hier in New York hatten die Auswanderer die Überfahrt über den Atlantik allerdings schon hinter sich, den sie in Hamburg vor der Einschiffung noch vor sich hatten. Vielleicht hatte Ben ja heute mehr Glück, etwas zu entdecken.
Neu war für Ben in dieser Ausstellung, dass über 10 Millionen Afrikaner ebenfalls nach Amerika eingewandert waren, allerdings nicht freiwillig. Sie wurden nach Amerika verschleppt, um zur Gewinnung von Baumwolle, Tabak, Indigo oder Zucker als Sklaven für die Weißen zu arbeiten.
Die riesige Registrierungshalle im ersten Stockwerk beeindruckte Ben sehr. Zwei rot-weiß gestreifte Flaggen mit weißen Sternen auf blauem Untergrund, die die einzelnen Staaten der Vereinigten Staaten symbolisierten, hingen auf beiden Seiten der großen Halle. Nur ein paar Holzbänke von damals und die Pulte der Inspektoren zeugten davon, dass hier sämtliche Einwanderer in langen Schlangen darauf warten mussten, bis sie untersucht und befragt worden waren.
„Das ist ja der Hammer“, entfuhr es Ben, als er die Abbildung einer ärztlichen Augenuntersuchung sah. „Genauso wie mein Großvater es mir vom Urgroßvater erzählt hat. Mein Urgroßvater hatte am meisten Angst vor der Augenuntersuchung. Die Leute hassten es, dass ein Arzt ihre Augenlider nach oben zog, um nachzusehen, ob sie eine Augenkrankheit hatten. Das war für die unheilbar Kranken der Anfang vom Ende. Sie wurden gleich wieder in die alte Heimat zurückgeschickt.“
In weiteren Ausstellungsräumen im ersten Stockwerk sah Ben dieselben erwartungsvollen oder ängstlichen Einwanderer in ärmlicher Kleidung, die er schon von anderen Bildern her kannte. Es tauchten auch dieselben gefürchteten Fragen der Inspektoren wieder auf, deren richtige Antworten die Auswanderer im Hamburger Hafen schon auswendig gelernt hatten, damit sie auch ja die Fragen der Grenzkontrolleure vor den Toren New Yorks überstanden und endlich nach Amerika einreisen durften.
„Was für einen Beruf haben Sie? Wie viel Geld haben Sie? Waren Sie schon einmal im Gefängnis? Wohin in den Vereinigten Staaten von Amerika wollen Sie? Haben Sie Verwandte hier?“, las Ben laut vor und tat so, als wäre er ein strenger Inspektor. Jack gähnte allerdings unbeeindruckt. Diese Fragerei war ihm natürlich nicht neu, sie kam ihm inzwischen zu den Ohren heraus.
Schließlich hatten alle seine Verwandten in New York lange Zeit von nichts anderem erzählt als von ihren Erlebnissen in der Krankenstation oder in den Räumen der Einwanderungsbehörde.
„Das alles hier kennst du doch schon“, sagte Jack sichtlich genervt.
„Ich hab eine viel bessere Idee. Du musst dir das Krankenhaus dort drüben ansehen.“ Jack deutete durch eines der riesig großen Fenster auf ein langgestrecktes Gebäude mit roten Klinkersteinen auf der anderen Seite des Kanals, auf dem die „Liberty“ angelegt hatte.
„Das Krankenhaus hat´s in sich“, wusste Jack und machte geheimnisvolle Andeutungen: „Das sag ich dir. Ich weiß es von vielen Geschichten der Leute, die damals krank waren und deshalb nicht einwandern durften. Sie mussten dort rein und gesund werden, oder … na ja, du weißt schon. Entweder sie sind zurückgeschickt worden, oder sie sind sowieso krepiert. Es sieht noch genauso aus wie damals, echt spooky. Manchmal hört man auch die Stimmen ihrer Geister. Es gab eine Leprastation und eine psychiatrische Abteilung für die Einwanderer, die nicht ganz dicht im Kopf waren. Später gab´s auch eine Gefängnisabteilung für Spione aus Deutschland, Russland, Italien und so“, beschrieb Jack mit Nachdruck alles, was er darüber gehört hatte.
„Du spinnst doch“, wehrte Ben ab und verdrehte die Augen. „Bestimmt hast du die Hälfte erfunden, oder dazugedichtet, oder du hast zu viele Gruselgeschichten gelesen. Wahrscheinlich ist es ein ganz normales Krankenhaus, darauf hab ich gerade null Bock. Ich will lieber die Ausstellung zu Ende sehen.“
„Wenn du mir nicht glaubst, dann gehen wir doch rüber“, verteidigte sich Jack. „Sieh mal dort, das Plakat. Wenn wir uns beeilen, können wir noch eine Führung durch das alte Krankenhaus machen, bevor die Fähre kommt. Falls du dich traust! Aber ich sag´s dir gleich, dort drüben spukt es.“
„Hui Buh“, alberte Ben herum. „Meinetwegen, lass uns gehen. Aber nur, weil jetzt so viele Leute hier sind und ich mir vorkomme wie in einer Sardinenbüchse. Das ist unglaublich, wie viele Menschen auf einmal hier reinkommen.“
„Auch nicht anders als damals“, fand Jack. „Los, wir müssen uns beeilen. In 10 Minuten beginnt die Führung. Wenn wir die nicht erwischen, ist es zu spät.“
„Dann auf ins Krankenhaus der Geister“, lachte Ben. „Mal sehen, wer von uns als Erster da ist.“
Fortsetzung folgt …