Heuschrecken mit Schokolade – Teil 1
„Jetzt mach schon endlich“, drängte Ida ihren Bruder Nils, sich zu beeilen.
„Im Laufschritt verließen sie den Strand in Richtung Schloss Marienlund. Sie waren spät dran, weil Nils getrödelt hatte. Nils zog sich unterwegs noch schnell ein T-Shirt über, mit dem Aufdruck Take it easy! „Das passt ja genau zu meiner Stimmung!“, dachte Ida gereizt. Ständig musste Ida auf ihren Bruder aufpassen.
Als sie am Schlosscafé vorbeikamen, trafen sie auf Sofia, Maria und Aisha, die sich ihrem Laufschritt anschlossen. Sie nickten dem schlecht gelaunten Geschwisterpaar zu: „Was ist euch denn über die Leber gelaufen?“, fragten sie wie aus einem Mund, schwatzten dann aber eifrig weiter, da Ida als Antwort nur die Augen verdrehte.
„Jetzt haben wir den Salat“, schnaubte Ida aufgeregt, während sie gemeinsam die Treppen in die erste Etage hinauf zum Goldenen Zimmer stiegen.
„Es ist unser letztes Treffen vor den Sommerferien, und wir haben immer noch kein Forschungsthema für das nächste Schuljahr festgelegt. Ich hab’ mir jedenfalls nichts überlegt“, gestand sie kleinlaut. „Professor Morgenstern und Emma Thompson werden nicht gerade begeistert sein, dass wir unsere Denk-Hausaufgabe nicht erledigt haben. Ich hatte einfach keine Zeit“, schob sie trotzig nach und blickte ihre Freunde hilfesuchend an. „Die Prüfungsvorbereitungen, der Klassenausflug, die Vorbereitungen aufs Abschlussfest – mir war das alles viel zu viel!“
„Reg dich wieder ab“, tröstete sie Maria, „glaubst du, mir ging´s besser? Lass uns schnell ein paar Ideen sammeln, wir haben noch etwas Zeit bis die Lehrer kommen!"
Pu, Balu, Sinan, Ben und Lalit lieferten sich gerade eine Kissenschlacht, als die anderen das Goldene Zimmer betraten. Lalit jagte das Kissen Ben ab und warf es quer über den Tisch zu Sinan, allerdings zu hoch, so dass es im Kronleuchter landete und ein paar Glasplättchen der mächtigen Lampe gefährlich klirrten.
„Spinnst du“, rief Ben entsetzt, „wenn das Ding kaputtgeht, dann hat das letzte Stündlein der Earthgang geschlagen und wir können einpacken, denn das verzeihen uns Felix und Emma niemals, abgesehen davon, dass das bestimmt eine kostbare Antiquität und unersetzlich und unbezahlbar ist.“
„Schon gut, schon gut, das war keine Absicht“, entschuldigte sich Lalit kleinlaut. Er brachte das Kissen schweigend zurück und verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust.
„Habt ihr Vorschläge für die Forschungsthemen vorbereitet?“, rief Ida dazwischen, um die aufgeheizte Stimmung im Raum ein wenig aufzulockern. Alle hüstelten verlegen. Da niemand etwas sagte, setzte Ida sich an den runden Tisch. Die anderen folgten ihr. Im Nu saßen alle um den Tisch herum und strengten ihre Köpfe an.
„Regenwald“, warf Sofia in die Runde.
„Facebook, Google & Co.“, schlug Sinan vor.
„Weltraum“, rief Nils. „Alexander Gerst ist zum zweiten Mal auf der ISS Raumstation.“
„Die verheerenden Tsunamis und Erdbeben, die sich in letzter Zeit ereignet haben“, fiel Pu ein. „Ich schlage vor, wir nehmen Naturgewalten.“
Gemeinsam diskutierte die Earthgang über die Vorschläge und stimmte anschließend über die unterschiedlichen Themen ab. Ida übernahm die Moderation, damit bei der Abstimmung nichts durcheinander geriet.
Als Pus Vorschlag zur Abstimmung kam, gingen acht Arme nach oben.
„Das Thema find ich auch gut“, sagte Ida und auch ihr Arm ging in die Höhe. „Die Earthgang muss geschlossen zustimmen, so ist die Regel. Hey, Sofia, uns fehlt noch die zehnte Stimme. Können wir dich noch überzeugen?“, drängte Ida.
„Nöööö, auf das Thema hab ich überhaupt keine Lust. Ich hab schon so viele Wirbelstürme und Wetterkatastrophen in Mexiko erlebt, das Thema hängt mir zum Hals heraus. Nichts zu machen. Ich bin dagegen.“
Enttäuscht ließen die anderen Mitglieder der Earthgang ihre Arme sinken. In diesem Moment kam Maria ein rettender Geistesblitz: „Die Ernährung von morgen“, rief sie freudig in die Runde. Als sie erzählte, was sie auf der letzten Expo in Mailand alles über das Essen der Zukunft erfahren und gesehen hatte, sprudelte es nur so aus ihr heraus, dass die anderen interessiert aufhorchten.
„Es gab Heuschrecken mit Schokolade“, ulkte sie dabei herum, und ihre Freunde schauten sie ungläubig an. Doch Sofia und Aisha nickten zustimmend mit den Köpfen und konnten Marias Bericht nur bestätigen, denn sie waren ebenfalls mit auf der Expo gewesen.
„Wer ist dafür?“, fragte Ida erneut.
Alle Arme schnellten in die Höhe. Nur Nils’ Arm ging etwas zögerlich nach oben.
„Zehn Stimmen“, rief Ida triumphierend. Das Brainstorming hatte sich gelohnt. Wie gut, dass sie so ein eingespieltes Team waren.
Nelson bellte durchs Treppenhaus. Jeden Moment musste Professor Morgenstern zur Tür hereinkommen.
„Uff, wir haben´s gerade noch mal geschafft“. Erleichtert atmete Ida auf. „Das war knapp".
„Die Ernährung der Zukunft“, posaunten die Kinder stolz Felix und Emma entgegen, als sie zur Tür hereinkamen.
„Ein gutes Thema“, grinste Felix Morgenstern und zwinkerte den Kindern zu. „Aktuell und sehr interessant. Das scheint die Medien ja gerade sehr zu beschäftigen. Ihr habt darüber abgestimmt und seit alle einverstanden?“
„Ja, alle“, grölten die Kinder durcheinander.
„Ich ess aber auch in Zukunft am liebsten Schnitzel mit Pommes“, wollte Nils sicherstellen. „Das andere Zeugs kann mir gestohlen bleiben und Salat mag ich sowieso nicht“, fügte er bockig hinzu. „Ich mach zwar mit bei dem Thema, ich will kein Spielverderber sein, aber eigentlich find ich´s langweilig und eklig“, maulte er in Richtung seiner Schwester.
„Ja, klar, das sagst du doch jetzt bloß, weil du eingeschnappt bist und keiner deine Geschichten über den Weltraum mehr hören kann“, konterte Ida genervt. Nils schaute seine Schwester verdutzt an und schwieg. Ida spürte, dass sie Nils verletzt hatte und schlug rasch einen versöhnlicheren Ton an: „Aber Alexander Gerst, Icarus und die ISS hatten wir doch schon.“ Und tröstend fügte sie hinzu: „Jeder weiß, dass du weltraumbesessen bist, aber trotzdem kann man sich auch noch für andere Dinge interessieren, meinst du nicht? “
„Wer weiß“, wollte Aisha Nils auf andere Gedanken bringen. „Vielleicht steigst du doch irgendwann auf Heuschrecken und Würmer um, die schmecken auch so ähnlich wie Schnitzel und haben ganz viel wertvolles Eiweiß, manche Würmer haben sogar einen höheren Eiweißgehalt als Fleisch! In meiner Heimat Mali essen wir ganz oft Insekten, die sind lecker, ich kenn mich da aus!“
„Spinnst du!?“, schrie Nils entsetzt auf. „Das ist nicht dein Ernst! Nie und nimmer esse ich dieses Ungeziefer. Lieber will ich verhungern, wenn´s auf unserem Planeten nichts mehr zu Essen gibt. Oder ich wandere auf einen anderen Planeten aus.“ Bei diesem Gedanken erhellte sich Nils’ Gesichtsausdruck. Er wollte später sowieso Astronaut werden. Dann könnte er irgendwo dort oben sein Gemüse anbauen und hätte vegetarische Schnitzel auf seiner Speisekarte. Das wäre auf jeden Fall besser als irgendwelche Käfer zu rösten!
Eine hitzige Diskussion war entfacht. Lalit und Pu gaben nun ebenfalls ihre Erfahrungen mit Würmern und Heuschrecken zum Besten, während Ben und Sinan darin wetteiferten, wer die gruseligsten und ekligsten Grimassen schneiden konnte. Emma Thompson ermahnte die Kinder hin und wieder, etwas ruhiger zu diskutieren, konnte sich aber selbst nur mühsam ein Lachen verkneifen, als sie Bens und Sinans Grimassen sah.
Plötzlich klopfte es an der Tür. Die Sekretärin des Schuldirektors steckte entschuldigend den Kopf herein. Ein dringender Anruf für Professor Morgenstern, er müsse sofort kommen.
Die Earthgang schaute sich besorgt an. Hoffentlich war nichts Schlimmes passiert!