Heuschrecken mit Schokolade – Teil 3

„Was sagst du?“, wandte sich Dr. Hauslage an Lalit.

„Ach nichts“, grinste Lalit. „Ich riech nichts Besonderes.“ Etwas Besseres fiel ihm vor Schreck nicht ein. Felix wunderte sich über diesen Blödsinn und musterte ihn misstrauisch. Aber dann schaute er wieder zu dem Wissenschaftler.

„Was ist das hier?“, wollte Felix nun von Jens wissen.

„Nun, Lalit hat den Nagel, ohne es zu wissen, auf den Kopf getroffen. Hier riecht man wirklich nichts Besonderes. Aber gerade das ist das Besondere. „Das, was von oben über die Rohre reinkommt, ist nämlich Abwasser. Unser Urin. Und das hier ist ein Filtersystem, in dem flüssige Abfälle, also unser Urin, zu einer Nährstofflösung, einer Art Dünger, zum Beispiel für das Züchten von Pflanzen verarbeitet wird. Deshalb riecht man am Ende nichts mehr vom Urin, was natürlich von Vorteil ist.“ Jens lächelte.

„Wenn ich das der Earthgang erzähle, die werden Augen machen! Da hätte Nelson vorhin ja gar nicht draußen auf die Wiese pinkeln müssen, sondern besser hier drinnen. Wenn man das auch noch verwenden kann!“

„Wieso Nelson?“, hakte Felix nach. „Was hat Nelson denn damit zu tun?“ Irgendwie kam ihm Lalit merkwürdig und seltsam abwesend vor.

„Nichts, nichts! War nur so eine Idee“, flüsterte Lalit. So unauffällig wie möglich drehte er seinen Kopf in Richtung Nelson und legte den Finger auf den Mund. Wenn der Hund bloß nicht aufflog, sonst gab es Ärger. Mucksmäuschenstill saß dieser hinter dem Waschbecken und gab keinen Laut von sich. Seine Augen blickten sehnsüchtig zu Lalit.

„Nun ja“, versuchte Jens die höchst komplizierte Bioanlage zu erklären.

„Es ist so ähnlich wie damals bei den ersten Menschen. Sie gingen durch den Wald, urinierten auf den Waldboden und machten hinter einem Baum ihre größeren Geschäfte. Toiletten gab es ja noch keine. Unsere Ausscheidungen gelangten direkt in den Boden. Die Bakterien im Boden reinigten unseren Abfall und wandelten ihn zu Dünger um, so ähnlich wie der Komposthaufen in unserem Garten. Dann wuchsen neue Pflanzen, die wiederum Sauerstoff, also Luft erzeugten, die wir Menschen zum Atmen benötigen. Diese Anlage hier ersetzt die Funktion des Bodens draußen auf dem Feld oder den Komposthaufen im Garten. Sie verwendet das, was aus uns Menschen rauskommt und verwandelt es zu Dünger, damit es für die Erzeugung unserer Nahrung wiederverwendet werden kann. Ganz schön clever, nicht wahr? Und deshalb riecht ihr keinen Urin“, betonte Jens noch einmal.

„Abgesehen von unserem Hund Nelson natürlich, mit seiner feinen Spürnase“, widersprach Lalit.

„Ja, ja, was hast du denn immer mit Nelson?“, wunderte sich Felix erneut.

„Wird Abfall in Dünger umgewandelt und wiederverwendet, dann schützen wir hier auf der Erde Boden und Grundwasser und das ist wichtig“, fuhr Jens fort.

Er rieb sich das Kinn und zerbrach sich den Kopf darüber, wie er die komplizierten Experimente, an denen er während der letzten Jahre geforscht hatte, Kindern am besten erklären sollte. Und wenn er es sich recht überlegte, forschte er ja gerade für sie, für ihre Zukunft.

„Da es nicht möglich ist, einen Komposthaufen als Bodenersatz zum Anbau von Tomaten in den Weltraum zu schießen, haben sich die Forscher des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt etwas anderes überlegt, vermute ich mal“, unterbrach Felix seine Gedanken und grinste. Jens zwinkerte ihm amüsiert zu.

„Genau, so ähnlich ist es, kommt mal mit.“ Felix folgte Jens in einen weiteren Raum, der fest verriegelt und mit schillernden Farben künstlich beleuchtet war.

Lalit folgte den beiden Männern nur zögerlich. Was sollte bloß aus Nelson werden? Er hatte dem Hund nochmals zu verstehen gegeben, weiterhin in seinem Versteck zu bleiben und keinen Mucks von sich zu geben, doch jetzt verlor er ihn aus den Augen. Wenn ihm bloß nichts passierte, bei all diesen Flüssigkeiten, Schläuchen und Gerätschaften an diesem geheimen Ort, an dem für die Zukunft auf der Erde und im Weltraum geforscht wurde.

Der Raum erinnerte Lalit an das Chemielabor im Internat Marienlund. Er war ganz weiß und sauber und alle möglichen Glasgefäße standen ordentlich sortiert in dafür vorgesehenen Ständern. Durchsichtige Flüssigkeiten in verschlossenen Glasröhrchen wurden in gleichmäßigem Rhythmus geschüttelt und auf den Kopf gestellt.

„Das ist das Gewächshaus“, sagte Jens und deutete auf einen nicht besonders großen Glaskasten, der vor ihnen auf dem Tisch stand.

Kleine Tomatenpflänzchen waren darin zu sehen.

„Was?“, rief Lalit entsetzt und die Enttäuschung war ihm ins Gesicht geschrieben. Das war nicht das schöne Gewächshaus, das er sich in seiner Fantasie ausgemalt hatte.

„Das sollen Tomatensträucher sein? Da sind ja gar keine Tomaten dran?!“

„Deinem Gewächshaus geht´s so wie dem Komposthaufen, vermute ich“, fiel Felix dazu ein. „Man kann ein großes Gewächshaus, wie du es kennst, nun mal nicht mit einer Rakete in den Weltraum schießen.“

„Weißt du“, versuchte Jens Lalit zu trösten, „unser Satellit ist nur 250 Kilogramm leicht, also etwa doppelt so schwer wie du und Felix zusammen. Er dreht sich in etwa 600 Kilometern Höhe um seine Längsachse und hat nur einen Durchmesser von einem Meter. Später verglüht er dann im Weltraum mit allem was darin ist. Daran musst du denken. Bis dahin erfassen unzählige Kameras und Sensoren, was im Inneren der Gewächshäuser abläuft. Aber schau dir doch unser kleines Gewächshaus mal genauer an, vielleicht änderst du ja deine Meinung und es gefällt dir doch.“

Lalit näherte sich so aufmerksam er nur konnte dem Minigewächshaus mit den Tomatenpflänzchen. Er war viel zu nervös, um auf Jens’ Worte zu hören, weil seine Gedanken voller Sorge um Nelson waren. Hoffentlich passierte ihm nichts!

„Das, was du hier siehst“, fuhr Jens fort, „ist zwar nur ein Glaskasten mit vielen Schläuchen drumherum und ein paar Pflänzchen darin, doch es birgt zusammen mit den anderen Teilen im Satellit einen wertvollen Schatz: Leben wird im Weltraum möglich!“ Lalit spürte den feierlichen Ton in Jens Stimme.

„Geht das auch mit Kartoffeln?“, wollte Lalit schnell noch wissen.

Jens lachte. „Ja, ja, das geht auch mit Kartoffeln oder Salat, die Art der Pflanzen ist nicht so wichtig. Aber dass eine Pflanze überhaupt im Weltraum wachsen und Früchte tragen kann, DAS ist wichtig. Wichtig ist, was unseren Boden auf der Erde im Weltraum ersetzt. Der Boden bringt all unsere Nahrung hervor und die unserer Tiere. Auf ihm wächst alles. Ohne Boden können wir nicht leben. Er ist das wichtigste. Wie bringen wir also den Komposthaufen in den Weltraum, obwohl er gar keiner ist? Dieses Rätsel haben wir hier in diesem kleinen Gewächshaus zusammen mit seinen anderen Gerätschaften gelöst.“

Jens machte eine kurze Pause, dann sprach er weiter: „Glaube mir, wenn das Leben in einem für uns Menschen so lebensfeindlichen Platz wie dem Weltraum funktioniert, dann gewinnen wir auch viele wichtige Erkenntnisse für die Erzeugung von Nahrung für uns Menschen hier auf der Erde. Dann können Pflanzen auch in Katastrophengebieten, in Bergwerken oder unter Wasser gedeihen. Das sind nur ein paar Beispiele. Gleichzeitig schützen wir Boden und Grundwasser und es werden neue Methoden zur Düngung oder Frischwasseraufbereitung entwickelt .“

Lalit rauchte jetzt der Kopf und er hielt es vor Angst um Nelson fast nicht mehr aus. Wo war Nelson? Wie ging es Nelson? War ihm auch nichts zugestoßen? Trotzdem hatte er bei aller Aufregung verstanden, dass in einem Gewächshaus, das mit einem Satelliten in den Weltraum fliegt, Tomaten ohne echtes Wasser und ohne echten Boden wachsen, blühen und Früchte tragen würden.

Und dass der Boden oder das, womit man den Boden ersetzte, für die Nahrung der Menschen das Allerwichtigste war, das hatte er auch verstanden. Über die Frage, ob es in Zukunft dann Schnitzel, Tomaten, Pommes oder Heuschrecken mit Schokolade gab, konnten sie sich zusammen mit Emma Thompson und Felix Morgenstern im nächsten Schuljahr den Kopf zerbrechen, dachte er.

Als sie gemeinsam zurück in den Raum mit den Filtern kamen, rannte Lalit voraus, er konnte seine Anspannung nicht länger zurückhalten. Aufgeregt suchte er hinter dem Waschbecken und zwischen allen Geräten und Filtern nach seinem Freund. Keine Spur von Nelson. Er war verschwunden.

Da brach es aus Lalit heraus: „Nelson war da, er muss sich losgerissen haben, jetzt ist er fort. Hoffentlich ist ihm nichts passiert“, überschlug sich seine Stimme.

Jens und Felix schauten ihn verständnislos an, doch schon öffnete sich eine Glastür, die Lalit gar nicht gesehen hatte, und hereinkam Suse mit Nelson an der Leine. Vergnügt wedelte er mit dem Schwanz und bellte vor Freude, als er Lalit und Felix wiedersah. Dann klopfte es auch schon an der anderen Tür und der Wachmann vom Haupteingang steckte seinen Kopf herein. Diesmal sah der Mann nicht mehr so freundlich aus. Doch bevor er seinem Ärger Luft machen konnte, beruhigte ihn Jens lachend.

„Alles in Ordnung, wir haben den Übeltäter schon gefunden. Die Besucher verlassen ohnehin jetzt das Gelände und nehmen den Hund gleich mit.“

Als Lalit und Felix sich von Jens verabschiedet hatten und zurück auf dem Nachhauseweg waren, hielten sie erst einmal in einem Rasthaus und ließen sich eine gute Mahlzeit schmecken. Sie aßen Nudeln mit Tomatensoße. Lalit hatte nach all den Aufregungen einen Bärenhunger. Nelson schmatzte genüsslich unter dem Tisch und vertilgte seine Fleischportion im Nu.

In diesem Moment meldete sich Brain, das Smartphone, das Lalit neben sich auf dem Stuhl liegen hatte.

„Eu:CROPIS, Eu:CROPIS“, rief es laut und meldete sich zu Wort:

Eu:CROPIS – das ist die biologische Wasseraufbereitung und Nährstoffproduktion an Bord eines DLR-Satelliten. Zukünftige Raumfahrtbesatzungen müssen während ihrer monate- oder jahrelangen Missionen mit Atemluft und Nahrung versorgt werden. Bioregenerative Lebenserhaltungssysteme können dies ermöglichen. Im Rahmen der Eu:CROPIS-Mission soll die Langzeitstabilität eines biologischen Lebenserhaltungssystems demonstriert werden, das auf Basis von biologischen Abfallprodukten Sauerstoff und Nahrungsmittel produziert. Wesentliche Charakteristika von Eu:CROPIS (Euglena and Combined Regenerative Organic Food Production in Space) sind:

Zwei biologische Systeme werden kombiniert: Mikroorganismen setzen künstlichen Urin in eine Nährlösung für Tomatenpflanzen um. Dabei können „giftige“ Stoffwechselprodukte entstehen, die von Algen (E.gracilis) umgesetzt werden. Die Algen produzieren außerdem Sauerstoff, der beim Start des Experiments für die Aktivität der Mikroorganismen und für die Keimung der Tomatensamen gebraucht wird. So wird ein geschlossenes Habitat nachgebildet.

Zwei …“

„Brain, halt die Klappe!“ Lalit schaltete genervt das Smartphone aus.

„Das kann kein Mensch verstehen, was du da plapperst. Wir waren jetzt schon bei dem Erfinder der Eu:CROPIS Mission und er hat uns persönlich erklärt, worum es geht. Ich hab´s kapiert. Mit deinen komplizierten Erklärungen kannst du mich jetzt nicht mehr beeindrucken.“

Und er fügte hinzu:

„Außerdem wird´s mal wieder Zeit für ein Abenteuer, das spannend und nicht so schwierig ist“, entschied Lalit mit vollem Mund.

Das ließ sich Felix Morgenstern nicht zweimal sagen. „Versprochen“, rief er lachend aus. Dann blickte er unter den Tisch zu Nelson. „Und du darfst natürlich mitkommen!“

Die Reise nach Spanien zu Felix’ Freund Paco wartete schon auf sie und erfahrungsgemäß würde ein aufregendes Abenteuer nicht lange auf sich warten lassen.

ENDE

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